Die chinesische Kultur und Geschichte sind mehr als komplex. Offensichtlich wird diese Tatsache für uns als UX Designer vor allem in der Gestaltung digitaler Produkte für den chinesischen Markt. Doch warum sieht gute UX in China so anders aus als im Westen? Ich möchte ein paar der markantesten Unterschiede im Design herausgreifen und die teilweise kulturellen Hintergründe erläutern. Mein Ziel ist, aufzuzeigen, was chinesisches Design ausmacht, um es für westliche Betrachter:innen verständlicher zu machen.
Die Autorin
Mein Name ist Yang Zhong, ich komme ursprünglich aus China, habe in Deutschland meinen Master in ‚Digitale Medien‘ abgeschlossen und arbeite nun als Lead UX Designer bei Ergosign in Berlin. Somit kann ich sowohl auf meine Erfahrung im UX Design als auch auf meine kulturellen Wurzeln zurückgreifen.
Alles Chinesisch: Die Schriftsprache
Für das ungeübte Auge kann die chinesische Sprache sowohl kompakt als auch komplex erscheinen. Das liegt daran, dass die chinesische Sprache logogrammatisch ist: Sie basiert auf geschriebenen Zeichen. Diese Zeichen sind rechteckig und bestehen aus gemalt anmutenden Strichen. Die Anzahl der Striche innerhalb jedes Zeichens kann zwischen einem und mehr als hundert variieren - die rechteckige Größe bleibt jedoch gleich.
Englisch oder Deutsch sind hingegen phonetische Sprachen, die die Buchstaben des Alphabets verwenden, um Wörter zu bilden. Diese Wörter variieren in der Länge.
Phonetische Sprachen benötigen also mehr Platz für die gleichen Informationen, obwohl Chinesisch „dichter“ aussieht. Betrachten wir also die Nutzung von Fläche in einem Layout, ist chinesisch deutlich effizienter. Als Designer haben wir also mehr Layoutoptionen. Das Ergebnis kann für Nicht-Muttersprachler:innen oder ein ungeübtes Auge dennoch chaotisch oder zu voll erscheinen. Chinesische Muttersprachler:innen hingegen nehmen die Schriftzeichen als informativ und strukturiert wahr.
Ein Blick zurück: Kulturelle und wirtschaftliche Hintergründe
1. Die Designgeschichte
Die chinesische Kultur hat sich anders als die westliche Zivilisation entwickelt und durchlief weder eine zweite industrielle Revolution noch die Bauhaus-Ära.
Im Laufe der Geschichte beeinflussen sich Kulturen immer gegenseitig und so zeigen sich die Einflüsse des Westens im chinesischen Design beispielsweise durch die Kombination der westlichen Fotokunst mit traditionellen chinesischen Zeichentechniken. Dieses dekorative Design hat sich als sehr beliebt erwiesen, denn die chinesische Bevölkerung legt großen Wert auf visuelle Details. Das erklärt uns, warum globale Unternehmen meist das Layout ihrer Produkte für den chinesischen Markt verändern, damit sie nicht als langweilig wahrgenommen werden.
2. Wirtschaft und Geschäftsperspektiven
China entwickelt sich sehr schell und wird weiter rasant wachsen. Ländliche und landwirtschaftlich geprägte Gebiete stehen in Kontrast zu den Metropolen wie Shanghai und Peking. Die Städte sind hektisch, wirken für Europäer überwältigend, symbolisieren aber auch Leben, Weltgewandtheit und Reichtum.
Gleiches gilt für das visuelle Design. Genauso, wie Chinesen gekonnt durch den hektischen Großstadtdschungel navigieren, können sie auch die volle und laute digitale Landschaft scannen und schnell relevante Informationen aufnehmen. Minimalistisches Design würde untergehen.
Auch die Bevölkerungsgröße von 1,4 Milliarden Menschen ist ein interessanter Aspekt. Ein Feature, das vielleicht nur für 0,01 % der Bevölkerung nützlich ist, kann immerhin noch 140.000 Kunden anziehen.
3. Technologie und Internet
Große Technologieunternehmen wie Alibaba oder Baidu haben Technologie zugänglich und für die durchschnittlichen chinesischen Verbraucher:innen verfügbar gemacht. Die Bevölkerung kann so ihre eigenen Vorlieben abseits westlicher Technologieunternehmen entwickeln.
Das Internet in China ist schnell und zuverlässig. Durch den stetigen Netzausbau werden jedes Jahr Millionen neuer Benutzer:innen mit dem Internet vertraut. Homepages bieten oft eine enorme Menge an Funktionen, um so viele Benutzer:innen wie möglich zu gewinnen und zu binden. Ein Beispiel hierfür ist WeChat. Anfangs ein Chat-Tool, ist es heute eine „Mega-App“, die Online-Bezahlsysteme, soziale Netzwerke, Lieferservices für Essen und vieles mehr bietet– mit monatlich über 1,12 Milliarden aktiven Nutzenden.
Wird Minimalismus überbewertet?
Die meisten Menschen bevorzugen Produkte mit vielen Features, Funktionalität und Vielseitigkeit. Chinesisches UX Design spiegelt diesen Unterschied und diese Denkweise wider. Komplexität zeigt Status und „mehr“ korreliert mit Wert. Das Besondere ist nur, dass sich dies auch im chinesischen UX Design und Mindset widerspiegelt: Komplexe Produkte zeigen den sozialen Status - frei nach dem Motto „mehr ist besser“.
Eine App voller Funktionen und Buttons erscheint für den ostasiatischen Markt wertvoller und attraktiver. Schlichtes und minimalistisches Design, das westliche Kulturen bevorzugen, wird dagegen als langweilig empfunden und das Produkt sogar als weniger tauglich bewertet.
Zusammenfassung
Ich habe nur an der Oberfläche der Unterschiede zwischen chinesischem und westlichem Design gekratzt. Tradition und Kontext haben immer einen immensen Einfluss. Auch, wenn die Globalisierung den Geschmack der Menschen beeinflusst und ein Stück weit vereinheitlicht, gibt es kein goldenes Prinzip, das universell Erfolg verspricht. Unternehmen wie AirBnB wären sonst beim Markteintritt in China nicht so spektakulär gescheitert.
„Dies bringt uns zu einem der wichtigsten Prinzipien für erfolgreiches UX Design: Der Mensch steht im Mittelpunkt – nur, wer die Bedürfnisse kennt, kann ein gelungenes Produkt entwerfen.“